Appell zivilgesellschaftlicher Organisationen für eine nachhaltige und menschlichere Strategie der Pandemiebewältigung
31. Januar 2022
Sehr geehrter Herr Bundespräsident
Sehr geehrte Mitglieder des Bundesrats
Sieben zivilgesellschaftliche Organisationen äussern sich im Folgenden zu den gesundheitlichen und wirtschaftlichen Schäden aufgrund von Masseninfektionen, üben Kritik am «Schweizer Mittelweg» und fordern eine nachhaltige, menschlichere Strategie der Pandemiebewältigung.
Die Schweiz treibt auf immer höheren, kurz aufeinanderfolgenden Corona-Wellen. Die herbstliche Delta-Welle konnte sich nicht nur bei ungeimpften Erwachsenen, sondern ausgehend von den Schulen vor allem unter Kindern, Lehrpersonen, (auch geimpften!) Eltern und Grosseltern ohne Boosterangebot ausbreiten. Trotz explodierender Fallzahlen an den Schulen verzichtete der Bundesrat darauf, seine Kompetenz per Epidemiengesetz Art. 6 wahrzunehmen, das föderale Verantwortungs-Ping-Pong zu beenden und für einen einheitlichen Mindestschutz an den Schulen zu sorgen.
Die Delta-Welle hatte erneut unhaltbare Zustände auf Intensivstationen und in Heimen zur Folge: Wiederum war das bereits überlastete Personal in den Spitälern mit Schwerstarbeit konfrontiert, und wieder starben zu viele Menschen an Covid.
Als sich im Dezember die immun-evasive Omikron-Variante auszubreiten begann, unterliess es der Bundesrat unter anderem aufgrund von wirtschaftlichen Überlegungen, die Welle wenigstens mit kurzfristig wirksamen Schutzmassnahmen abzubremsen.
Seit Januar 2022 erlebt die Schweiz bei rekordhoher Zirkulation von Omikron BA.1 den totalen Kontrollverlust in der Pandemiebekämpfung mit einem Zusammenbruch der Teststrategie und der Kontaktnachverfolgung, während in Dänemark und Österreich bereits BA.2 mit einem deutlichen Übertragungsvorteil die Oberhand gewinnt.
Grundlagen der Pandemiebekämpfung
In einer Krise sollten wir uns an die Prinzipien der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft erinnern:
«Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.»
steht in der Präambel, und Art. 11, Absatz 1
«Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung.»
mahnt zum Schutz der Kinder und Jugendlichen.
Die bundesrätliche Coronapolitik nimmt sehr hohe Fallzahlen mit dem Argument in Kauf, die Hospitalisierungen seien noch vertretbar und das Gesundheitssystem nicht komplett überlastet. Sie vernachlässigt dabei jedoch wesentliche Faktoren:
- Es werden reihenweise Operationen verschoben.
- Vulnerable Personen können sich kaum noch schützen.
- Kinder unter 12 Jahren hatten kein rechtzeitiges Impfangebot und werden in den Schulen quasi zwangsweise durchseucht. Seit der ungebremsten Delta-Ausbreitung an den Schulen bricht der Bundesrat sein Versprechen, dass die Normalisierungsphase erst beginnen würde, nachdem alle exponierten Bevölkerungsgruppen eine Impfmöglichkeit hatten.
- Je nach Altersgruppe und Impfstatus leiden 3 – 20 % der Infizierten unter Long Covid bzw. Post-COVID-19. Auch Geimpfte sind bei Impfdurchbrüchen nur unzureichend vor Long Covid geschützt; bestenfalls halbiert sich das Risiko.
Die ungefragte Durchseuchung von weitgehend ungeschützen Kindern und Jugendlichen bei Präsenzpflicht, die Gefährdung von Vulnerablen und die Inkaufnahme von Hunderten neuen Long-Covid-Fällen pro Tag sind inakzeptabel.
Der Bundesrat hätte gemäss Epidemiengesetz (EpG) Art. 6 in der besonderen Lage die Kompetenz, Massnahmen anzuordnen, wenn die ordentlichen Vollzugsorgane nicht in der Lage sind, den Ausbruch und die Verbreitung übertragbarer Krankheiten zu verhüten und zu bekämpfen.
Wir appellieren an den Bundesrat, die Verfassungsgrundsätze zu beachten und nach dem erneuten Kontrollverlust basierend auf den Zielen des Epidemiengesetzes auf eine nachhaltige und menschlichere Niedriginzidenz-Strategie hinzuarbeiten.
Die Impfung als alleiniger Weg aus der Pandemie?
Vor einem Jahr waren wir voller Hoffnung. Schneller als erwartet wurden Impfstoffe zugelassen. Die hohe Wirksamkeit der mRNA-Impfungen gegen Hospitalisierung und Tod ist für die bisherigen Varianten von SARS-CoV-2 unbestritten. Inzwischen hat sich jedoch bestätigt, dass auch dieser Schutz mit der Zeit nachlässt und eine Auffrischimpfung erforderlich macht.
Der hohe Schutz der Impfung gegen schwere Verläufe führte dazu, dass das BAG berechtigterweise eine hohe Impfquote in der Bevölkerung anstrebte und noch immer anstrebt. Problematisch ist jedoch, dass eine hohe Impfquote zu lange nicht nur als notwendiges, sondern auch als hinreichendes Mittel zur Bekämpfung der Pandemie propagiert wurde.
So erfreulich der Rückgang von Hospitalisationen und Todesfällen im Verhältnis zu den Neuinfektionen auch ist, seine Darstellung als «Entkopplung» schwerer Verläufe von der Inzidenz führte leider zu einer Herabstufung der Inzidenz als Überwachungskriterium.
Die Nichtberücksichtigung der Inzidenz ist kontraproduktiv – sie führt zu Zeitverlust am Beginn einer Welle und ignoriert den direkten Zusammenhang mit der Anzahl zukünftiger Long-Covid-Fälle. Ausserdem leistet diese Politik einer Entwicklung Vorschub, bei der Infektionen verharmlost und Public-Health-Massnahmen nicht richtig umgesetzt werden.
Proportional zu den rekordhohen täglichen Neuinfektionen generiert unser Land neue Long-Covid-Fälle. Bei Kindern rechnet man mit einem Long-Covid-Risiko von mindestens 3 % [MPU-2021]. Junge, nicht geimpfte Erwachsene (16 – 30 Jahre alt) hatten sechs Monate nach einer Covid-Infektion (ohne Hospitalisierung) Neurosymptome wie Geschmacks- und/oder Geruchsstörungen (28 %), Fatigue (21 %) und Gedächtnisstörungen (11 %) [BBL-2021].
Bei Omikron rechnet man über alle Altersgruppen mit Long Covid bei 10 bis 20 % der Fälle, ohne einen starken Zusammenhang mit der Schwere der akuten Infektion [MPU-2022]. Eine Studie fand im September 2021, dass Geimpfte 47 % seltener an Long Covid erkranken [MBR-2021]; Kinder ohne Impfschutz haben diesen Vorteil nicht.
Für Long-Covid-Betroffene, die mit Dauerkopfschmerzen, Brain Fog, Muskelschwäche oder Chronic Fatigue kämpfen, wie auch für ihre Angehörigen ist es unverständlich, dass der Bund noch keine systematische, landesweite Erhebung (nationale Long-Covid-Studie) in die Wege geleitet hat und die Notwendigkeit einer solchen Erhebung sogar bezweifelt.
Für vulnerable Menschen ist die anhaltend hohe Viruszirkulation ein unerträglicher Zustand, denn sie müssen sich seit zwei Jahren fast ununterbrochen isolieren und können sich kaum vor einer Infektion schützen, wenn sie schulpflichtige Kinder haben.
Dauerhafte Immunisierung oder Reinfektionen ohne Ende?
Während Medien und Exponenten aus der Politik bei rekordhohen Inzidenzen von einer harmlosen Endemie träumen und das Narrativ bewirtschaften, Infektionen mit dem angeblich «milden» Omikron führten durch das Schliessen der Impflücke zu einer breiten Grundimmunität der Bevölkerung, zeigt es sich immer mehr, dass diese Annahme unsicher ist. In Dänemark und Norwegen infizieren sich Personen, die vor kurzem von Omikron BA.1 genesen sind, mit der Untervariante BA.2. Während BA.1 schon 53 Mutationen gegenüber dem Wildtyp aufweist, lässt BA.2 mit 70 Mutationen eine weiter optimierte Immunflucht vermuten.
Gebietet uns das Präventionsprinzip nicht, dass die Durchseuchung mit Omikron dringend unterbrochen werden müsste, solange wir nicht genau verstehen, wie virulent diese Untervarianten sind und wie oft sie bei Re- und Durchbruchsinfektionen zu Long Covid führen? Untersuchungen, die bei Covid-Infektionen auf Schäden im zellulären Immunsystem hinweisen (z.B. T-Zellen), mahnen zur Vorsicht [CPH-2022].
Wie beurteilt der Bundesrat, dass Hospitalisierungen von Kindern in den letzten Wochen stark zugenommen haben? Je mehr Kinder sich anstecken, desto mehr schwere Komplikationen wie PIMS werden auftreten. Die Wahrscheinlichkeit für ein Kind, wegen COVID-19 hospitalisiert zu werden, war seit Beginn der Pandemie noch nie so hoch. Ist eine «Immunisierung» grosser Teile der Bevölkerung mit Omikron BA.1 nicht unsinnig, wenn wir davon ausgehen müssen, dass sie uns nur unzureichend vor BA.2 und weiteren Varianten schützt?
Hochinzidenz beschleunigt die Antigendrift, begünstigt die Entstehung immun-evasiver Varianten und erschwert somit die Versorgung der Bevölkerung mit passenden Impfstoffen. Dies erscheint bei einem potenten Virus wie SARS-CoV-2 umso problematischer, als es kein Naturgesetz gibt, welches automatisch zu weniger virulenten Varianten führt. Zudem besteht das Risiko einer Rekombination von Omikron mit der weiterhin zirkulierenden Delta-Variante [CDR-2022].
Für die Annahme, Omikron habe zu einer breiten Grundimmunität der Bevölkerung geführt und bedeute das «Ende der Pandemie» gibt es keine Evidenz. Im Gegenteil: Man kann sich unmittelbar nach einer Omikron-Infektion erneut infizieren – eine Infektion mit Omikron ergibt nur eine schwache Immunität gegen eine Omikron-Reinfektion und eine limitierte Kreuzimmunität gegen eine Delta-Infektion [VSE-2022]. Zudem schwindet die Impfstoffwirksamkeit gegen symptomatische Erkrankung sowie Hospitalisierung schneller für Infektionen mit Omikron als mit Delta [VSR-2022].
Volkswirtschaftliche Schäden durch Hochinzidenz
Aus volkswirtschaftlicher Sicht mag es kurzfristig verlockend sein, in der Hoffnung auf eine «breite Immunisierung» das Ende der Krise auszurufen und die Bevölkerung zu einem freundlichen Konsumklima und sorglosen Mobilitätsverhalten zu animieren. Doch aufgrund des Fitness-Gewinns neuer, immun-evasiver Virusvarianten selbst gegenüber Populationen mit einer sehr hohen Impfquote müssen wir damit rechnen, dass eine zu lockere Schweizer Coronapolitik Jahr für Jahr weitere Wellen mit hoher Inzidenz nach sich ziehen wird. Eine solche Entwicklung wird jedoch einen erheblichen Teil der Bevölkerung aufgrund bewusster Risikominimierung, Unsicherheit, akuter oder chronischer Erkrankung in ihrer wirtschaftlichen Aktivität ausbremsen [WSJ-2022].
In den Sektoren Industrie und Dienstleistung müssen Arbeitgeber:innen mit krankheitsbedingten Ausfällen und höheren Prämien bei Krankentaggeldversicherungen rechnen. Die schon in normalen Zeiten grossen Schwankungen unterworfenen Betriebe in Tourismus und Gastronomie werden es bei andauernd hohen Infektionszahlen noch schwerer haben, planen zu können: Internationale Gäste bleiben aus, Servicepersonal fehlt krankheitshalber, wechselt in sicherere Branchen oder kann für saisonabhängige Betriebe nur noch erschwert aus dem Ausland akquiriert werden.
In Gesundheit und Pflege wird das seit zwei Jahren durch Schwerstarbeit mit COVID-19-Erkrankten überbelastete und erschöpfte Personal weiter verheizt. Ohne Aussicht auf eine nachhaltige Verbesserung der miserablen Arbeitsbedingungen verlassen immer mehr Pflegefachpersonen ihren Beruf, und der Personalmangel wird sich weiter verschärfen.
Schulen werden aufgrund von akuten und Long-Covid-Erkrankungen ebenfalls mit abnormal hohen Personalausfällen und -fluktuationen konfrontiert. Der Anteil der Schüler:innen mit erhöhtem Förderbedarf aufgrund von Brain Fog, Chronic Fatigue oder psychosozialer Belastung durch (chronische) Erkrankung von Familienangehörigen nimmt zu.
Krankenversicherungen müssen wiederkehrend mit hohen Kosten für stationäre Behandlungen und Rehabilitation von Covid-Patient:innen rechnen, Versicherte mit höheren Prämien. Die Folgen einer zu lockeren, der kurzfristigen Gewinnoptimierung verpflichteten Coronapolitik werden erst mit Verzögerung in den Sozialversicherungen sichtbar – in den Zahlen der Invalidenversicherung sind die Langzeitgeschädigten aus der ersten Covid-Welle gerade erst «angekommen».
Wie weiter?
Es ist kontraproduktiv, wenn Gesundheitspolitiker und Medien Schwarz-Weiss-Malerei betreiben, wenn differenzierte Lösungen durch Gegenüberstellen extremer Positionen verhindert werden. Ein Paradebeispiel dafür sind Schulen. Mantramässig wurde wiederholt, dass Schulen offen bleiben müssen. Dabei geht es gar nicht um die Frage, ob Schulen um jeden Preis offen zu halten oder unbedingt zu schliessen sind; es geht darum, sie mit adäquaten, niederschwelligen und insbesondere technischen Massnahmen für saubere Luft sicherer zu machen. Wir fordern den Bundesrat zu einer differenzierteren Krisenkommunikation und -bewältigung auf.
Eine rekordhohe Viruszirkulation bedeutet nicht, dass die Maskenpflicht als Werkzeug versagt hätte; sie sollte vielmehr dem BAG Anlass zu einer Überprüfung sein, weshalb führende Industrienationen aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse FFP2-Masken empfehlen.
Der aktuelle Kontrollverlust ist kein Grund, alle Vorsichtsmassnahmen fallen zu lassen, sondern Anlass, die gesundheitlichen und volkswirtschaftlichen Schäden aufgrund mangelhafter Prävention und einer wiederkehrend hohen Inzidenz korrekt zu bewerten und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Wir fordern eine nachhaltige und menschlichereNiedriginzidenz-Strategie, welche Masseninfektionen und die daraus resultierenden Kollateralschäden (einschliesslich Long Covid) sowie die Gefährdung vulnerabler Personen nach dem Abklingen der aktuellen Welle proaktiv vermeiden will. Dadurch sollen besonders exponierte Berufsgruppen wie Fachpersonen in Medizin und Pflege sowie Lehrpersonen in Zukunft entlastet und besser geschützt werden.
ProtectTheKids
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Corona-Mahnwache
https://www.coronamahnwache.ch
IG Risikogruppe Schweiz
ig.risikogruppe@gmail.com
Sichere Schule
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Kinder schützen – jetzt!
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Long Covid Kids Schweiz
https://longcovidkids.ch
Bildung Aber Sicher CH
media@bildungabersicher.ch
Referenzen
[BBL-2021] “Long COVID in a prospective cohort of home-isolated patients”, B. Blomberg et al., Nature Medicine, nature.com, 23.06.2021.
[MPU-2021] “Fast 20 Prozent der erkrankten Erwachsenen entwickeln Long Covid”, M. Puhan, srf.ch, 19.10.2021.
[CDR-2022] “Drosten befürchtet Rekombination aus Omikron und Delta”, C. Drosten, rnd.de, 22.01.2022.
[CPH-2022] “Immunological dysfunction persists for 8 months following initial mild-to-moderate SARS-CoV-2 infection”, C. Phetsouphanh et al., Nature Immunology, nature.com, 13 Jan. 2022.
[MPU-2022] “Long Covid wegen Omikron: «Wir wissen frühestens im April mehr»”, M. Puhan, srf.ch, 18.01.2022.
[VSR-2022] COVID-19 vaccine surveillance report, UK Health Security Agency, 27 January 2022 (week 4).
[WSJ-2022] “Covid-19, Endemic or Not, Will Still Make Us Poorer”, Greg Ip, The Wall Street J., Jan. 19, 2022.